Verkehrs- und Bildungssprachen im Alten Orient

Verkehrs- und Bildungssprachen im Alten Orient
Verkehrs- und Bildungssprachen im Alten Orient
 
Der Vordere Orient tritt uns heute sprachlich fast als eine Einheit entgegen, herrscht doch in den islamischen Ländern Nordafrikas, der Arabischen Halbinsel und der Levante die arabische Sprache vor; dagegen zeichnete sich der Alte Orient in den drei vorchristlichen Jahrtausenden durch eine überraschende Sprachvielfalt aus. Das Übergewicht besaßen schon damals semitische Sprachen; dazu gehörten die Sprache der Babylonier und Assyrer, das Akkadische, daneben aber auch die Sprache von Ebla und das Ugaritische, die kanaanäischen Sprachen wie das Phönikische und das Hebräische, das Edomitische, Moabitische und Ammonitische, schließlich das Aramäische und seine jüngeren Zweigsprachen wie das Palmyrenische, das Nabatäische, das Syrische, das Jüdisch-Palästinensische, ferner die altsüdarabischen Sprachen wie Sabäisch und Minäisch. Daneben gab es weit verbreitete oder regional begrenzte Sprachen, die ganz anderen Sprachstämmen angehörten. So wurden in Kleinasien zeitweilig die indoarische Sprache Hethitisch, das damit eng verwandte Luwische und das Palaische gesprochen. Ebenfalls indoarisch ist die altpersische Sprache, die in Iran seit dem ausgehenden 2. Jahrtausend nachgewiesen werden kann. Sprachlich isoliert stehen heute noch Sprachen wie das Sumerische in Südbabylonien, das Elamische im heutigen Khusistan am Persischen Golf und das Hurritische, das vom ausgehenden 3. bis zum Ende des 2. Jahrtausends in einzelnen Regionen Nordmesopotamiens gesprochen wurde. Zu nennen sind schließlich noch das Kassitische in Babylonien und das Urartäische, das uns aus Inschriften der Region um den Vansee in Ostanatolien herum bekannt ist.
 
Alle diese Sprachen sind uns allein dadurch überliefert, dass sie für Felsinschriften, Staatsverträge, Rechtsurkunden, Wirtschaftstexte und ähnliche offizielle Denkmäler verschriftet wurden. Natürlich gab es auch zahlreiche Sprachen von Völkern ohne Schrifttradition, die - wie es von den Gutäern, einem Bergvolk aus dem nördlichen Zagrosgebirge im Südwesten des heutigen Iran, heißt - »wie Hunde bellen« oder, nach einem assyrischen Text, »wie Frauen wispern«. Von ihnen wissen wir nichts. Die anderen Völker bevorzugten als Schrift die Keilschrift. Nur die Sprachen der Levante und Zentralarabiens sind hauptsächlich in alphabetischer Konsonantenschrift überliefert.
 
Dies alles wäre nicht besonders überraschend, wenn diese Sprachen in einer gewissen historischen Folge nacheinander als Umgangssprachen Verwendung gefunden hätten und überliefert worden wären. Natürlich wurde die Sprache, die im täglichen Umgang der Menschen miteinander gesprochen wurde, auch in Briefen, kürzeren oder längeren Notizen und in persönlichen Gebeten im Kult gebraucht. Doch einige Sprachen haben darüber hinaus noch besondere Verwendung gefunden. So war im 2. Jahrtausend v. Chr. das Babylonisch-Assyrische die Sprache der Diplomaten, durchaus vergleichbar mit dem Französischen im Europa des 18. Jahrhunderts n. Chr. Deshalb korrespondierten babylonische Könige mit dem ägyptischen Pharao selbstverständlich in ihrer Muttersprache, aber auch der König des Hethiterreiches und seine Königin führten ihre Korrespondenz mit dem ägyptischen Hof in Akkadisch. Selbst die Fürsten kleiner Staaten in Syrien-Palästina, die teilweise unter ägyptischer Oberhoheit standen, verkehrten mit ihrem Souverän nicht in dessen Sprache, sondern in der Fremdsprache Akkadisch. Weil sie gelegentlich mit dieser Fremdsprache Probleme hatten, fügten die Schreiber, die natürlich die Briefe verfassen mussten, mit »Glossenkeilen«, also gewissermaßen in Klammern, noch ihre landessprachlichen Begriffe für manche seltenen akkadischen Wörter hinzu. Das zeigt, dass die Schreiber im Prinzip in der Lage gewesen wären, ihre Korrespondenz auch in ihrer eigenen Landessprache zu führen, sich aber eben der Diplomatensprache Akkadisch notdürftig bedienten.
 
In der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr. wurde im Alten Orient das Aramäische zur Verkehrssprache. Nachdem 539 v. Chr. der persische Herrscher Kyros der Große Babylon erobert hatte, war ihm auch das babylonische Weltreich, das bis zum Nil reichte, in die Hand gefallen. Wenig später weiteten die Achaimeniden ihren Einfluss von Persien nach Ägypten selbst und auch nach Kleinasien hin aus, ganz abgesehen von den zahlreichen Ländern, die sie im iranischen Zentralgebiet beherrschten. Um eine einheitliche Verwaltung garantieren und um die verschiedenen Verwaltungsvorgänge besser in der Hand behalten zu können, gebrauchte man aber nicht das einheimische Persisch. Offensichtlich war diese Sprache noch nicht zur Schriftsprache geworden, da die altpersische Keilschrift wohl erst von Dareios II. eingeführt wurde. Deshalb verwendete man das in weiten Teilen des Reiches bereits bekannte und mit einer Konsonantenschrift geschriebene Aramäisch. So fand diese Schrift und Sprache vom ersten Nilkatarakt in Ägypten bis hin zum Bosporus und bis zum Hindukusch Verwendung. Als Alexander der Große die Nachfolge der achaimenidischen Könige als Herrscher des Perserreichs antrat, wurde sie durch das Griechische abgelöst.
 
Diese Trennung zwischen Umgangssprache und Verkehrs- oder Diplomatensprache hatte zur Folge, dass zumindest die Gebildeten zweisprachig waren. Auch Mehrsprachigkeit kam vor; sie war vor allem ein Produkt der Schreiberschule, die offensichtlich neben der Kunst des Schreibens und Rechnens auch die Vermittlung von Fremdsprachen einschloss. Die Schreiberschulen waren es auch, in denen die Literatur tradiert, das heißt weitgehend auswendig gelernt wurde. Die Bedeutung der Schreiberschule für die altorientalische Kultur kann deshalb kaum überschätzt werden.
 
Unter diesen Aspekten ist es nicht besonders verwunderlich, dass eine auf Tradition bedachte Kultur wie die altorientalische im Bereich der Religion, in dem bei allen Völkern konservative Tendenzen vorherrschen, noch stärkere Beharrungstendenzen kannte. Da die semitischen Akkader im südlichen Mesopotamien zugewandert, die Bevölkerungsgruppe, die die Hochkultur letztlich geschaffen hatte, aber die Sumerer waren, übernahmen die Erben der sumerischen Kultur in bestimmten Bereichen - besonders in Kultus und Verwaltung - auch die sumerische Sprache. In der Verwaltung trat allerdings rasch eine Erstarrung ein. Für verschiedene Verwaltungsvorgänge, aber auch für juristische Sachverhalte, wurden etwa Formulare entwickelt, die in sumerischer Sprache abgefasst waren und bei denen lediglich Namen und Gegenstände ergänzend eingesetzt werden mussten. Diese Formulare wurden verhältnismäßig lange beibehalten, mögen aber in der Praxis zwar sumerisch geschrieben, aber akkadisch gelesen worden sein - sie wurden in die akkadische Umgangssprache übersetzt.
 
Dagegen hatten sich im kultischen Bereich während des 3. Jahrtausends v. Chr. feste Traditionen gebildet, nach denen man in Hymnen, Gebeten, Beschwörungen und Ritualen die Götter in ihrer eigenen, also der sumerischen Sprache anredete. Das entspricht in etwa der Verwendung des Lateinischen in der westlichen christlichen Kirche, das ja auch als Liturgiesprache zumindest bis zur Reformation unbestrittene Gültigkeit hatte. Diese Traditionen wurden beibehalten und sogar weiterentwickelt. Wir besitzen noch Hymnen aus der Seleukidenzeit, der Periode griechischer Vorherrschaft im Vorderen Orient, die offensichtlich neu geschaffen wurden und zeigen, dass die sprachliche Tradition auch damals noch lebendig war. Allerdings müssen wir davon ausgehen, dass bereits kurz nach der Wende vom 3. zum 2. vorchristlichen Jahrtausend das Sumerische als gesprochene Sprache ausgestorben ist. Es wurde folglich nur noch von Gelehrten oder Priestern überliefert, die diese Sprache in der Schule anhand spezieller Schulbücher lernten. Von vielen Texten, die etwa im Beschwörungswesen von den Priestern verwendet wurden, gab es dann auch Interlinearübersetzungen: Auf eine Zeile in sumerischer Sprache folgte in der nächsten deren akkadische Übersetzung. Dadurch war gewährleistet, dass man neben dem Sumerischen auch das Akkadische gebrauchen und verstehen konnte. Die Anweisungen für die rituellen Handlungen wurden meist in Akkadisch ausgefertigt, die eigentlichen Beschwörungen in Sumerisch.
 
Neben der Umgangssprache und der Kultsprache bestanden aber auch schichtspezifische Sprachen. So lesen wir von einer »Schiffersprache«, von einer »Hirtensprache« und anderen »Sondersprachen«. Das Sumerische besaß eine eigene »Frauensprache«, die sich zumindest in ihrer Lautgestalt deutlich von der »Normalsprache« abhob; sie wurde zum Beispiel dort verwendet, wo in mythischen Erzählungen Göttinnen sprechen. Auch im Akkadischen waren bestimmte Literaturwerke offensichtlich nur für eine »gebildete Zuhörerschaft« geschrieben und bedienten sich einer altertümlichen, oft stark poetisch gefärbten Sprache. Deshalb ging selbst den Gebildeten allmählich das Verständnis für schwierige Konstruktionen oder seltene Wörter verloren. In späterer Zeit haben sich dann die Schreiber darum bemüht, durch Kommentare zu bestimmten Texten das Verständnis zu erleichtern. Wir sehen also auch hier, dass die altorientalischen Schreiberschulen einen sehr wichtigen Beitrag zur Tradierung der Sprache der Literatur und damit der Kultur geleistet haben, ja dass sie hier schon eine Wissenschaftstradition begründeten, die später die Griechen - etwa mit den Scholien zu den Gesängen Homers - fortführten.
 
Prof. Dr. Wolfgang Röllig

Universal-Lexikon. 2012.

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